Katalonien, Kurdistan & Co: Unabhängigkeit ist eine Machtfrage

Unter welchen Voraussetzungen darf sich eine Region für unabhängig erklären? Historische Legitimation? Mehrheit bei einer Volksabstimmung? Sprachen? Natürliche Grenzen (Insellage, Flüsse, Gebirgsketten)? Erfüllung einer Definition von „Volk“? Wer definiert mit welcher Legitimation, was ein Volk ist? Welche Legitimation hat das „Völkerrecht“ der UN, wenn Atomwaffenbesitzer im Sicherheitsrat das Völkerrecht und UN-Resolutionen per Veto sabotieren können?

Ob Katalonien oder Kurdistan, Schottland oder Slowenien, Palästina oder Peru, Ost-Ukraine oder Krim, USA oder Indien, Vatikanstaat oder Monaco: Ob Unabhängigkeitserklärungen durchgesetzt werden können, ist keine juristische Frage, sondern immer nur eine Frage von Macht und politischen Interessen.

Und was auch übersehen wird: Eine Unabhängigkeit muss vorher auch ökonomisch durchdacht werden. Ist die neue Nation überhaupt eigenständig überlebensfähig? Darüber scheinen sich die Katalanen keine ausreichenden Gedanken gemacht zu haben.

Die juristische Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit

Die Katalanischen Separatisten haben genau das gemacht, was fast alle Staaten gemacht haben, die sich als Teilregion oder ehemalige Kolonie für unabhängig erklärt haben, und deren Unabhängigkeit weltweit anerkannt wurde:

  • Sie bildeten eine politische Vereinigung.
  • Sie errangen Mehrheiten.
  • Sie ließen frei über die Unabhängigkeit abstimmen.
  • Die Wähler stimmten (hier: mit 90%) für die Unabhängigkeit.
  • Sie leiten den Prozess zur Unabhängigkeitserklärung ein.

Daran gibt es aber auch gar nichts zu beanstanden. Manche monieren eine angeblich zu geringe Wahlbeteiligung von 42%. Das ist sehr viel, wenn man bedenkt, dass die Zentralregierung den Druck von Stimmzetteln sabotierte, Wahllokale blockierte, Gewalt gegen Wähler angekündigt hatte und 850 Wähler mit Schlagstöcken und Gummigeschossen verletzte (ohne jegliche Kritik der EU).

In Deutschland haben viele Kommunalwahlen und manche Landtagswahl Wahlbeteiligungen unter 50%. Bill Clinton wurde mit einer Wahlbeteiligung von unter 50% zum US-Präsidenten gewählt. Bei Schweizer Volksentscheiden stimmen durchschnittlich 40-44% der Bürger ab. Niemand stellt die Legitimation dieser Wahlen infrage.

(Dass die Unabhängigkeit nicht wirklich durchdacht ist, ist Thema von Teil 2 dieser Serie.)

Ein Sachverhalt, hunderte Millionen Meinungen

Im Netz wird heftig diskutiert. Katalonien habe selbstverständlich jedes – oder gar kein Recht, sich für unabhängig zu erklären. Nicht-kurdische Syrer, Türken und Iraker sprechen den Kurden das Recht auf einen eigenen Staat ab, während Kurden das genau anders herum sehen. Beim Existenzrecht eines unabhängigen Staates Palästina stehen sich weltweit hunderte Millionen Meinungs-Inhaber unversöhnlich gegenüber. Warum keine Milliarden Meinungen? Weil sich der größte Teil der Menschheit nicht für Politik interessiert und/oder mit dem täglichen Überleben beschäftigt ist.

Nichts überdauert ewig

Fakt ist: In der Geschichte der Menschheit gab es keinen Staat, der tausende Jahre alt wurde bzw. bei dem sich niemals Grenzen verschoben. Wenn man einfach mal durch Putzgers historischen Weltatlas blättert, sieht man Länder, Nationen, Weltreiche und Staatenbündnisse kommen und gehen. Noch größenwahnsinniger als der Albtraum der Nazis vom 1.000-jährigen Reich ist nur die EU, die die Position vertritt, jedes EU-Land habe eine unendliche Bestandsgarantie in den heutigen Grenzen und Strukturen.

grenzen römisches Reich

(ständig fließend: Grenzen des Römischen Reichs)

Es ist auch bemerkenswert, wie unterschiedlich die EU ihre Maßstäbe definiert. Beim Brexit machte die EU sehr schnell deutlich, dass Schottland zügig in die EU aufgenommen wird, wenn es sich vom „bösen“ Großbritannien abspaltet. Slowenien wurde „binnen Monatsfrist als neuer Staat von allen (damals zwölf) Mitgliedern der EG anerkannt“, als es sich von Jugoslawien lossagte. Was unterscheidet Slowenien von Katalonien? In Bezug auf die Unabhängigkeit ist der einzige Unterschied, dass Katalonien sich von einem EU-Staat lösen möchte. Und genau das ist auch der Grund für den Verrat der EU an ihren offiziellen demokratischen Werten. Man will keinen Präzedenzfall für den Zerfall von EU-Ländern, selbst wenn die neuen Staaten in die EU eintreten bzw. darin bleiben wollen. Unabhängigkeit ist also auch hier keine Frage der Demokratie, sondern eine politische bzw. Machtfrage.

Wer darf sich unabhängig erklären?

Es gibt kein weltweites Gesetz zur Legitimation von Unabhängigkeitserklärungen. Nicht einmal die UNO hat das Recht dazu – und auch gar nicht die Möglichkeit.

Üblicherweise geht einer Unabhängigkeitserklärung ein gewonnener Krieg voraus. Die USA haben die Briten militärisch besiegt. Niemand außer den Briten hat die Unabhängigkeitserklärung der USA infrage gestellt. Niemand außer den Serben hat das Recht der Slowenen, Kroaten, Bosnier und Mazedonier auf ihre Unabhängigkeitserklärungen ernsthaft infrage gestellt. Bei den Kosovaren gelten ohne jeglichen Grund andere Maßstäbe: 111 der 193 Mitgliedstaaten der UNO erkennen die Republik Kosovo als unabhängig an – warum nicht die anderen 82?

In wenigen Fällen ist das Recht auf einen eigenen Staat so legitim wie bei den Kurden. Ihr Pech, dass sich ihr Siedlungsgebiet über die Türkei, Syrien, dem Irak und dem Iran erstreckt, von denen niemand auch nur einen Quadratmeter Land abgibt. Gleiches gilt für die Palästinenser, deren ehemals eigenes Land nun größtenteils Israel gehört. Bleiben langfristig 2 Optionen: Friedliche Koexistenz innerhalb eines Staates oder ein Bürgerkrieg – der militärisch aussichtslos und zivilisatorisch inakzeptabel ist.

Der Vatikan – ein unabhängiger Stadtteil

Der Vatikan ist mit 440.000 Quadratmetern der kleinste Staat der Welt. Seine Größe liegt zwischen Einkaufszentrum (für Glaubensprodukte) und Stadtteil. Seine Unabhängigkeit erreichte auch er auf der Basis von Macht. Und zwar durch die religiöse Macht über Menschen, die Diktator Mussolini 1929 benötigte. Es war ein politischer Deal: Die katholische Kirche unterstützte den Diktator und erhielt dafür mit den „Lateranverträgen“ die Anerkennung des Vatikan als unabhängiger Staat. Nach der „konstantinischen Schenkung“ war das das zweite große Gaunerstück der katholischen Kirche.

„Königreich Deutschland“ – zur Miete

Theoretisch könnte jeder Eigenheimbesitzer seinen eigenen Staat ausrufen. Davon träumen nicht nur die „Reichsdeutschen“ oder der „König von Deutschland“ Peter Fitzek, bei dem ich 2015 in Breslau die Gelegenheit hatte, ihn nach seinem Königreich zu befragen. Er mietete ein leerstehendes Krankenhaus samt 90.000 Quadratmetern Gelände und proklamierte das „Königreich Deutschland“. Er zahlte keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge mehr an die Bundesrepublik, stellte eigene Pässe, Führerscheine und Kfz-Kennzeichen aus, gründete eine eigene Bank und eine eigene Krankenversicherung, schuf eine eigene Währung – und unterschätzte die Macht der Bundesrepublik. Die schickte mehrmals Hundertschaften von Polizisten, die von Computern bis zu persönlichen Gegenständen von bis zu ca. 600 Anhängern Vieles beschlagnahmte und zerstörte, die Bewohner mehrfach verhaftete und die Motivation zermürbte.

Wie zu erwarten war, wurde Fitzek wegen Betrieb einer Bank ohne Lizenz, Fahren ohne gültigen Führerschein, Dokumentenfälschung (Kennzeichen, Pässe, etc) zu einer Haftstrafe verurteilt. Der umgebende große Staat hat die größere Macht und wandte sie an. Darauf wies ich ihn in unserem Gespräch hin – er lächelte nur. Er wich auch meiner Frage aus, welche Rechtsgrundlage er für ein Königreich sieht, dessen Immobilie ihm gar nicht gehört, sondern die er je lediglich gemietet hatte.

Ein Gedankenspiel zum Thema Macht: Nehmen wir an, Einfamilienhausbesitzer Hugo Müller wäre im Besitz von 2 kleinen Atombomben, die er irgendwo in Deutschland deponiert hätte, und er würde sagen: „Entweder erkennt mich die Bundesrepublik als Präsident meines Staates Müllerland an, oder ich lasse sie hochgehen. Zuerst eine in einer unbewohnten Gegend, und die zweite mitten in einer Großstadt.“ Spätestens nach der Detonation der ersten Bombe hätte er seinen Staat. Dieses Szenario verfilmte Hollywood bereits 1955 in der Komödie „Die Maus, die brüllte“. Darin genügte der Besitz einer „Q-Bombe“, um als kleinstes Land der Welt die USA in die Knie zu zwingen (und einen Wein vom Markt zu nehmen).

Nein, wir werben nicht für den Besitz von Atombomben und sind auch keine Unterstützer der „Reichsdeutschen“ und ähnlicher Separatisten, und schon gar keine Anhänger von Monarchie und Personenkult. Im Gegenteil. Hier geht es darum, darauf hinzuweisen, dass die Unabhängigkeit von Staaten eine reine Machfrage ist.

Die Preisfrage

Und es geht auch um eine kritische Frage, die ich Peter Fitzek stellte, und auf die er keine Antwort hatte:

Was ist die ökonomische Grundlage seines Staates? Woher sollen ausreichende Einnahmen kommen?

Damit sind wir bei den Katalanen, deren Regierungschef sich gerade mit 5 Ministern ins Exil nach Belgien abgesetzt zu haben scheint, um einer erdoganesken 30-jährigen Haftstrafe zu entgehen.

Fortsetzung in Teil 2: „Kataloniens Alternativen im Wirtschaftskrieg“

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