Was passiert, wenn es zu vielen Menschen zu schlecht geht oder die Ungleichheit zwischen Mächtigen und Volk zu groß ist? Dann war es in der Geschichte der Menschheit immer nur eine Frage der Zeit, bis das Volk die Herrscher stürzt. Unterschiedlich ist lediglich, wie und wie schnell es geschieht. Erdogan hat sein Ende selbst programmiert.

Die Türkei und ihre Bürger stecken in zahlreichen ökonomischen Problemen. Sie sind allesamt auf fortschrittsfeindliche, repressive und kurzsichtige politische Fehlentscheidungen zurückzuführen. Seit dem angeblichen Putsch (von dem viele der Meinung sind, dass er in dieser Art nur Sinn macht, wenn Erdogan ihn selbst inszeniert hat) hat Erdogan fast ausschließlich Entscheidungen getroffen, die das Land zurück werfen. Lassen wir die Abschaffung von Bürgerrechten, Demokratie, Rechtsstaat, Pressefreiheit, Opposition und den “Umgang” mit den Kurden einmal beiseite und betrachten die Situation aus ökonomischer Sicht.

Kurzfassung der ökonomischen Situation in der Türkei 2016

Die Statistikbehörde der Türkei untersteht Erdogan. Offizielle Statistiken müssen ihm gefallen und sind daher so aussagekräftig wie griechische Schuldenstatistiken, bevor der Statistikbetrug aufgeflogen ist. Bezeichnenderweise nennt Deutschlands Statistisches Bundesamt in seinem „Statistischen Länderprofil Türkei“ in den Quellenangaben keine einzige türkische Quelle.

Aus internationalen Quellen stammen diese Daten:

  • 10% Aussenhandelsdefizit
  • Laut Vertreter der EU in Ankara rd. 50% Schattenwirtschaft (Schwarzarbeit, Schwarzhandel)
  • Kaum nennenswerte eigene Industrieproduktion bzw. kaum Wertschöpfung
  • Offizielle statistische Daten müssen der Regierung gefallen und werden daher manipuliert wie in allen typischen Krisenstaaten, die Regierung ist mangels echter Daten blind für Ausmaß der Probleme
  • So gut wie keine Investitionen durch Unternehmen mehr
  • Ausländische Unternehmen ziehen sich zunehmend zurück
  • Korruption und Vetternwirtschaft der Regierungspartei verhindern wirtschaftliche Entwicklung
  • Währungskurs bricht zusammen (65% seit 2008), Importe u.a. von Energie werden schmerzhaft teuer
  • Tourismus bricht zusammen, Hotels und Gastronomie melden in Massen Insolvenz an
  • Bisheriger Aufschwung war kreditfinanziert, Gewinne wurden kaum nachhaltig investiert
  • Staatsschulden im Ausland seit 2002 von 130 auf über 700 Mrd. Dollar gestiegen
  • Defizite des Staatshaushalts wurden durch Privatisierungen geschönt.
  • Inflation bei rd. 8%, Tendenz steigend
  • Wohlstand konzentriert sich fast ausschließlich auf Istanbul (28% des gesamten Einkommens aller Türken).
  • Bürger drücken hohe Schulden, allein die Kreditkartenschulden sind von 2002 bis 2016 von 47 Milliarden Lira auf über 1 Billion Lira gestiegen.
  • 15% Zinsen (trotz islamischem Zinsverbot) und geringe Einkommen lassen die Privat- und Unternehmensinsolvenzen steigen
  • Kreditwürdigkeit des Staates auf Ramschniveau, Zinsen für Staatsanleihen über 10%, Tendenz steigend
  • Von allen Erwerbsfähigen haben nur 44% einen Job, davon fast alle schlecht bezahlt. Selbst bei Akademikern liegt das Durchschnittseinkommen unter 1.000 € monatlich.
  • 40% der Bürger ohne Sozialversicherung
  • Laut OECD Jugendarbeitslosigkeit bei rd. 32%, Tendenz steigend
  • Mindestlohn 390 € pro Monat, Tendenz sinkend
  • Durchschnittseinkommen rd. 9.000 € pro Jahr und Haushalt, Tendenz sinkend
  • 15 Millionen Bürger haben weniger als 125 € im Monat.
  • Fünfköpfige Familien haben monatlich oft weniger als 300 Euro.
  • Von nur 12 Millionen sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen arbeiten 46 Prozent zum Mindestlohn.
  • Lebenshaltungskosten fast so hoch wie in Westeuropa
  • Massive Landflucht (5 Mio. Menschen von 2000-2008)
  • Mieten explodieren in Ballungszentren
  • 2 von 3 türkischen Bürger sind extrem arm.

Erfolgreiche Politik sieht anders aus.

Kennen Sie ein türkisches Industrieprodukt oder ein türkisches Industrieunternehmen? Dass Ihnen keines einfällt, liegt daran, dass es so gut wie keine gibt, die sich international behaupten können. In der Türkei wurde kein einziges international patentiertes pharmazeutisches Produkt entwickelt. Nicht ein einziges. Industriell ist die Türkei bloß die verlängerte Werkbank europäischer Konzerne und allenfalls ein Schwellenland. Das einzige international bekannte Unternehmen ist Turkish Airlines. Die Fluglinie wird hoch subventioniert und macht hohe Verluste. Die Frage ist hier, wie lange der Staat und die Aktionäre noch Geld zuschießen wollen.

Die Potemkinsche Automobilindustrie

Das wichtigste Exportprodukt sind Fahrzeuge. Welche türkischen Fahrzeughersteller kennen Sie? Wahrscheinlich keine. So gut wie alle in der Türkei hergestellten Fahrzeuge sind Lizenznachbauten von Ford, Fiat, Opel, Citroen, Daimler, MAN, Renault, Mitsubishi, Toyota, Hyundai und Peugeot. Bis auf einige Busmodelle gibt es keine nennenswerten Eigenmarken, und diese Busmarken bestehen lediglich aus Aufbauten (Karosserie, Sitze etc.). Motoren und Fahrgestelle stammen bei kleinen Modellen von Mitsubishi und bei großen Modellen von MAN und DAF.

Was die Türkei exportiert, sind also lediglich (modifizierte) Modelle ausländischer Hersteller, die aufgrund der niedrigen Lohnkosten in der Türkei montiert werden. Eng damit verbunden sind Fahrzeugteile. Auch diese sind im Wesentlichen billige Auftragsfertigungen ausländischer Unternehmen.

Die türkische „Automobilindustrie“ erinnert an ein Potemkinsches Dorf. Hinter der Fassade steckt kaum Substanz.

Textilindustrie im Niedergang

Die größten echten türkischen Exporte sind Billig-Textilien. Auch hier basiert das Geschäftsmodell auf kümmerlichen Löhnen, und selbst das zunehmend schlecht, weil sie mit ostasiatischen und demnächst afrikanischen Löhnen konkurrieren müssen. Folge: Die Textilindustrie sackt Jahr für Jahr zusammen.

Urlaub mit Gefängnisrisiko

Türkei Ökonomie Krise

Spätsommer 2016 im Robinson Club Antalya: Tolles Angebot, kaum Gäste. Bild: Andrea Seekircher, Fotografin Düsseldorf

Besonders wichtig ist auch der Export touristischer Dienstleistungen. Seit den Gleichschaltungs- und Verhaftungswellen Erdogans ist der Tourismus um bisher um rd. 60% eingebrochen. Wer (wie ich) auch nur ein Erdogan-kritisches Posting auf Facebook verfasst hat, kann durchaus statt am Strand auch ohne Grund im Gefängnis landen. Man muss schon verrückt, leichtsinnig oder hemmungslos preisfixiert und gleichgültig sein, um noch Urlaub in der Türkei zu machen. Urlaub in der Türkei lässt sich – wenn überhaupt – ab 2017 nur noch zu Preisen verkaufen, von denen niemand leben kann.

turkey economic crisis

Nur 10 Gäste am Strand im Robinson Club Antalya. Bild: Andrea Seekircher, “Fotograf Düsseldorf

Rohstoffexporte sind das Armutszeugnis schlechthin für eine Volkswirtschaft. Sie bedeuten, dass ohne jede Nachhaltigkeit und mit geringer Wertschöpfung der Boden ausgeplündert wird, bis er nichts mehr hergibt. Wirklich zukunftsfähige Volkswirtschaften importieren Rohstoffe, um sie zu konkurrenzfähigen Produkten zu veredeln. Dazu ist die Türkei fast nirgends in der Lage. Es gibt im Land nur eine einzige Raffinerie – und die gehört zu 49% Shell und zu 51% der Milliardärsfamilie Koc. Deren Unternehmen Koc Holding ist das einzige türkische Unternehmen unter den 500 größten Unternehmen der Welt (so gerade noch auf Platz 497).

Was exportiert die Türkei sonst noch? Schmuck für 4 Mrd. $. Dem stehen allerdings 7,5 Mrd. $ Goldimporte entgegen. Bei einem Produkt ist die Türkei größter Exporteur der Welt: Bei Haselnüssen. Nüsse von Hungerlöhnern von Büschen pflücken lassen – das klappt hervorragend. Auch bei den sonstigen exportierten Lebensmitteln ist das Geschäftsmodell „Niedrigpreis durch Niedriglohn“.

Ein Weg in eine Zukunft mit Wohlstand für die Bevölkerung ist das nicht.

Erdogans Irrwege: Schuldenberge, Inflation, Steuerdumping, Atombombe

Erdogan versuchte sich mit einem kreditfinanzierten Aufschwung als Keynesianer. Grundsätzlich ist das keine schlechte Idee, wenn man a) sonst nichts hat, b) das Geld sinnvoll investiert und c) Rahmenbedingungen für eine florierende Wirtschaft schafft. Der Aufschwung ist allerdings verpufft. Übrig blieben einige Größenwahn-Immobilien wie der neue völlig überdimensionierte Istanbuler Flughafen, der niemals ausgelastet sein wird, Erdogans Kalifen-Palast – und ein gewaltiger Schuldenberg, der nur im Staatsbankrott enden kann.

Ende 2016 kündigte Erdogan an, das Land durch massive Steuersenkungen für ausländische Investoren attraktiver machen zu wollen. Steuerdumping führt erfahrungsgemäß lediglich zu Steuerausfällen und steigenden Schulden.

Im Gegensatz zum Euro-Mitglied Griechenland hat niemand eine Motivation, die Türkei durch Kreditverlängerungen künstlich am “Leben” zu halten. Da die Türkei ihre Kreditwürdigkeit fast völlig verloren hat, wird Erdogan die Banken zwingen, Staatsanleihen zu kaufen, von denen jeder weiß, dass sie niemals zurück bezahlt werden können. Also werden die türkischen Banken mit in den Abgrund gerissen. Um die Banken zu retten, wird Erdogan der Zentralbank befehlen, den Banken die Staatsanleihen abzukaufen. Geld von der Zentralbank für Staatsanleihen zu erhalten ist nichts anderes als Geld zu drucken. Mit dem Gelddrucken steigt die Inflation. Die Türkei wird sich in der Situation Deutschlands in den 1920er-Jahren wiederfinden: Damit es mangels Kaufkraft nicht zu Hungeraufständen und Massenobdachlosigkeit kommt, wird Erdogan hohe Sozialleistungen an fast alle Bürger verteilen müssen. Die Spirale aus Schulden, Gelddrucken und Inflation wird sich beschleunigen.

Eine Achillesverse ist der Import von Öl und Gas. Erdogan setzt auf Russland und hofft, daß Putin ihm dafür Sonderpreise macht. Aber Russland hat selbst ähnliche Probleme und nichts zu verschenken. Da die Energieimporte nicht durch gedrucktes Geld bezahlt werden können, hat Erdogan angekündigt, auf den Wahnsinn der Atomkraft zu setzen. 3 neue Atomkraftwerke sind bereits in Planung. Zu erwarten ist auch, dass Erdogan Atombomben entwickeln lassen wird. Atombomben zu bauen, ist technisch nicht allzu schwierig. Selbst technologisch schwache Staaten wie Nordkorea und Pakistan haben das geschafft. Es gibt gerade in schwachen Ländern genug bildungsferne Bürger, die sich mit Atomwaffen-Nationalstolz eine Weile besänftigen lassen.

Die Türkei wird zum Pulverfass

Die Wut auf Erdogan wird steigen. Vielleicht macht er noch 3 Jahre. Vielleicht auch 5. Und dann wird Erdogan enden wie andere Diktatoren. Es sei denn, er vollzieht eine Wende um etwa 150 Grad (nicht alles war falsch, daher keine 180 Grad):

Keine Zukunft ohne Freiheit

Warum gibt es in der Türkei keine nennenswerte Forschung, keine nennenswerte Produktentwicklung, keine bedeutenden Erfindungen / Patente und keine international bedeutenden Unternehmen?

Weil man dafür eine bestimmte Sorte Menschen benötigt. Es liegt in der Natur der Sache, dass diejenigen, die eine Ökonomie voran bringen, kreativ und intellektuell offen sein müssen. Diese Menschen sind weltweit gefragt. Wenn ein Standort unattraktiv ist, wollen sie dort nicht (dauerhaft) leben. Mit Denkverboten, Sprechverboten, Zensur und der Beschneidung persönlicher Freiheiten und Rechte vertreibt man die entscheidenden Menschen aus dem Land bzw. zieht sie gar nicht erst an.

Türkei Wirtschaftskrise

Wunderschön, aber kaum jemand will im Lande Erdogans Urlaub machen. Bild: Andrea Seekircher, Fotografin Düsseldorf

Je religiöser ein Land ist, desto unattraktiver ist es für Menschen, die freie Entfaltung wie die Luft zum Atmen brauchen. In keinem Land mit der “Religion, die nicht kritisiert werden darf” (siehe dazu auch: “Religionen: Alles, was man wissen muss“), ist es gelungen, eine Ökonomie aufzubauen, die ohne Rohstoffexport und Ausbeutung läuft. Auch die reichen Ölförderländer am Golf haben in all den Jahrzehnten unermesslichen Reichtums keine überlebensfähige Ökonomie aufbauen könne, weil sie alle Menschen, die sie voranbringen, vergraulen.

Von Marokko über Saudi Arabien und Pakistan bis Indonesien gibt es in den Ländern mit der “Religion, die nicht kritisiert werden darf” (weil man sonst auf Todeslisten von Verrückten steht) keine nennenswerte Forschung, Entwicklung, Erfindungen, Patente, Industrieprodukte oder Unternehmen. All diese Länder haben keine Zukunft, weil sie als Standort zu unattraktiv sind.

Daraus folgt: Nur durch eine liberale (nicht wirtschaftsliberale) Politik der Freiheit und Toleranz haben Staaten und Gesellschaften eine Zukunft. Wer freies Denken und Kreativität erstickt, ist schuld daran, dass nichts gedeiht. Jedes Land hat Potential. Jedes.

Erdogan gelangte an die Macht, weil viele in ihm die Hoffnung auf Wohlstand hatten. Nun steht er für die Hoffnungslosigkeit. Falls er seinen Kurs nicht radikal ändert (siehe oben), wird es ihm das Genick brechen. Fragt sich nur, wann und wie.