Movimento 5 Stelle: Wenn der Frust die Wahl entscheidet
09.05.2018, von Joel Fabian Gastmann
Bei den italienischen Parlamentswahlen 2018 schlug Movimento 5 Stelle (Fünf Sterne Bewegung) Matteo Renzi’s Partito Democratico haushoch. Folgt die Fünf-Sterne-Partei dem schlechten Ruf der Medien? Oder kann sie zum Positivbeispiel für Europa werden? Bemerkenswert links ist das Parteiprogramm.
Während andere „rechtspopulistische“ Parteien bisher nur Nadelstiche bei Wahlen setzen konnten, wählte Italien im März entscheidend gegen das Establishment. Dass Movimento 5 Stelle und die Lega ernst zu nehmen sind, war vor der Wahl jedem bewusst. Mit einer solchen Dominanz hat trotz hoher Umfragewerte dennoch so gut wie niemand gerechnet. Die Italiener wollen sich jetzt von dem Establishment befreien, das Großteile der Bevölkerung seit Anfang der 1990er Jahre in die Misere brachte. Auf die Fünf-Sterne-Bewegung als Hoffnungsträger richten sich jetzt nicht nur in Italien, sondern auch in Europa alle Augen. Alle sind gespannt, was eine durch Medien als „rechtspopulistische“ verurteilte Partei tut, wenn sie wirklich einmal an der Macht ist.
So einig Italien sich über die lang ersehnte Veränderung ist, bleibt abzuwarten, wie genau die nächste Regierung und ihre Politik aussehen sollen. Ausgerechnet die drei stärksten Parteien machten im Vorhinein deutlich, dass sie nicht miteinander koalieren wollen.
Wahlergebnis
Zur Übersicht noch einmal die Wahlergebnisse zusammengefasst:
- Fünf-Sterne-Bewegung 32,7 Prozent (+ 7,1 %)
- Demokratische Partei von Renzi (italienische SPD) 18,7 Prozent (-6,7 %)
- Lega (italienische AfD) 17,3 Prozent (+13,3%)
- Forza Italia von Berlusconi 14 Prozent (- 7,6 %)
- Fratelli d’Italia 4,4 Prozent (+2,4 %)
- Free and Equal 3,4 Prozent (+0,2 %)
Die weiteren Parteien wurden durch die 3%-Hürde ausgeschlossen.
Die Aussichtslosigkeit entscheidet die Wahl
Wie aber konnte es zu so einer Dominanz „rechtspopulistischer“ Parteien kommen? Und warum geschieht all das gerade in Italien?
Entscheidend für das Wahlergebnis war mit Sicherheit eines: Frust. 18 Millionen Italiener leben in Armut, 6 Millionen von ihnen sogar in absoluter. 12 Millionen Italiener sind so arm, dass sie sich Zugang zu guter ärztlicher Versorgung nicht mehr leisten können.
Vor Allem in Süditalien schreiten die Armut und Perspektivlosigkeit immer weiter voran und mindestens zwei Drittel der Jugendlichen dort ist arbeitslos. Gerade die Jugend und die Arbeitslosen trugen massiv zum Wahlerfolg der Fünf-Sterne-Bewegung bei, denn Finanz- und Schuldenkrisen trafen diese Menschen am meisten.
Wer beispielsweise in Italien studiert, erhält oft einen Abschluss ohne große Relevanz für das Berufsleben und wird anschließend im Beruf auch noch schlecht bezahlt. Arm und resigniert aufgrund der prekären Jobs bleiben viele Italiener bis ins Erwachsenenalter im Haus der Familie wohnen, da sie selber nicht die Möglichkeit haben finanziell unabhängig und eigenständig zu werden. Einige haben das Gefühl, etwas im Leben verpasst zu haben und wünschten sie wären ausgewandert. Junge Menschen in Italien sind außerdem auch typische Nichtwähler, da die allermeisten von ihnen sich in der Politik nicht berücksichtigt fühlen und den Glauben an sie längst verloren haben.
Daher emigrieren viele junge Italiener – zum Beispiel nach Deutschland. Jährlich verlassen etwa 50.000 Abiturienten und Hochschulabsolventen Italien. Die verbleibenden wählen Movimento 5 Stelle, das ein attraktiveres Parteiprogramm als Renzi verspricht.
Das Parteiprogramm von Movimento 5 Stelle
Frustrierte Nichtwähler zum Wählen zu bewegen ist eine echte Leistung. Mit welchen Argumenten hat die Fünf-Sterne-Bewegung das erreicht, was den anderen italienischen Parteien jahrelang nicht gelang? „Ehrlichkeit vor Erfahrung“ war das Motto von Movimento-5-Stelle. Was das genau bedeutet, zeigen einige Punkte des Parteiprogramms.
Für den Staat sieht die Bewegung mehr Transparenz und direkte Demokratie vor. Abgeordnete sollen beispielsweise ein Maximum von zwei Amtszeiten aktiv sein dürfen, womit verhindert wird, dass sich eine Regierung etabliert, die dauerhafte Korruption und Lobbyismus betreibt. Wer außerdem einmal korrupt war oder sonstig vorbestraft ist, soll nicht in das Parlament zurückkehren dürfen.
Das trifft zum Beispiel Berlusconi, aber auch den Gründer Beppe Grillo selbst, der wegen eines Autounfalls von 1981 selber vorbestraft ist und nicht kandidieren darf. Die Bevölkerung soll außerdem durch Direktübertragung aller parlamentarischen Sitzungen im Internet einen genaueren Einblick in das bekommen, was im Parlament geschieht. Verabschiedete Gesetze müssen im Internet erst drei Monate veröffentlicht werden und von den Bürgern kommentiert werden, bevor sie in Kraft treten. Wer sich gegen ein Gesetz oder Entscheidungen aussprechen will, soll auch durch die Einführung von Sammelklagen gegen Behördenentscheidungen darauf Einfluss nehmen können.
Wirtschaftlich ist Movimento-5-Stelle daran interessiert, Obergrenzen für die Management-Gehälter von Börsenunternehmen und von Unternehmen mit Staatsbeteiligung einzuführen. Monopole sollen bekämpft und lokale Produktionen gefördert werden. Ähnlich wie bei vorbestraften Abgeordneten sollen entlassene Geschäftsführer keine Posten in Börsenunternehmen oder in Unternehmen mit Staatsbeteiligung mehr bekleiden dürfen. Darüber hinaus haften Finanzinstitute auch für Folgeschäden ihrer verkauften Produkte. Arbeitslosengeld soll jedem ausnahmslos zustehen, der keine Arbeit hat.
Auch in der Medizin und Gesundheitspolitik soll jeder kostenlosen und gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Bei nicht essentiellen Gesundheitsleistungen sollen die Leistungen sogar proportional zum eigenen Einkommen bezahlt werden. Förderung und Finanzierung von Forschung im Gesundheitsbereich, insbesondere bei Gesundheitsschäden durch soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung stehen ebenfalls im gesundheitlichen Programm.
Proaktiv soll auch schön früh in Schulen über Gesundheit und Ernährung aufgeklärt werden. In der Bildung sollen Schüler und Studenten außerdem den Unterricht bewerten können und bessere Infrastruktur genießen. Marode Einrichtungen sollen besseren Zugang zu digitalen Medien bekommen und gedruckte Medien ablösen. Auch Forschungseinrichtungen an Universitäten sollen mehr Zuschüsse erhalten.
Umwelt und Verkehr sollen nachhaltiger und effizienter werden. Besonders für die Förderung von Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen und die Beseitigung der Subventionen für Müllverbrennung durch die Mafia sowie Energieerzeugung aus Abfällen setzt sich Movimento-5-Stelle ein. Auch kleinere Energielieferanten sollen gefördert werden (siehe Abschaffung von Monopolen und Förderung lokaler Produktion). Wer wie in der Gesundheitspolitik erwähnt durch Umweltverschmutzung oder generell behindert oder erkrankt ist, soll durch entsprechende Mobilitätspläne unterstützt werden. Fahrradfreundlichkeit und öffentliche Verkehrsmittel sollen in Zukunft auch eine größere Rolle spielen.
Außenpolitisch spricht sich die Fünf-Sterne-Bewegung gegen unbegrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen aus. Auf die Flüchtlingsfrage reagiert sie vor allem, indem sie sich gegen die Kriegsindustrie der Nato und ihre Kremlfeindlichkeit ausspricht, um so einer nötigen Flucht der Menschen aus Krisenländern vorzubeugen.
Wie Medien das Image der Bewegung manipulieren
Nach einem Blick auf das Parteiprogramm fällt eines sofort auf: Sämtliche Forderungen der Fünf-Sterne-Bewegung sind stark links. Zum „rechtspopulistischen“ Image, das die Medien vermitteln, passt das kein Bisschen.
Dass die Bewegung europakritisch ist und sich gegen unbegrenzte Zuwanderung ausspricht, ist korrekt. Aber die Gründe dafür finden in den Medien kaum Erwähnung. Im Gegensatz zur Lega oder einer AFD begründet sie dies nicht mit einem Feindbild der Flüchtlinge. Movimento-5-Stelle spricht sich wie erklärt gegen die gesamte Kriegsführung in allen Krisengebieten aus, aus denen Flüchtlinge nach Europa fliehen. Ein Krieg, den die deutsche Bundesregierung und der Großteil Europas bisher unterstützt haben und die Flüchtlingskrise damit vorangetrieben haben.
Diesen Zusammenhang decken Medien kaum auf oder werten die Kriegsführung als notwendiges Opfer für die Freiheit und Demokratie solcher Länder. Wie viel das kostet ist den Medienkonsumenten selten bewusst. Im Falle Italiens werden täglich etwa 80 Millionen Euro in die Kriegsindustrie investiert (überwiegend in die NATO-Kriegsführung in z.B. Syrien) – Geld, das die verarmten Italiener deutlich dringender brauchen und die Flüchtlingskrise verschärft.
Zur Lega, die enge Verbindungen zu Rechtsextremisten und Neofaschisten hat, nimmt Movimento-5-Stelle aufgrund dieses Feindbildes grundsätzlich Abstand und möchte nicht mit ihnen koalieren. Das ist kein Zufall, da ehemalige Sozialdemokraten der PD sich der Bewegung angeschlossen haben und damit eine große Linksfraktion in der Bewegung bilden. Auch ehemalige PD-Wähler unterstützen sie daher zunehmend, was im Wahlergebnis sichtbar wird.
In den Medien wird Movimento-5-Stelle grundsätzlich immer als „rechtspopulistisch“ bezeichnet, egal ob in privaten oder in öffentlich-rechtlichen Medien. Die „Heute-Show“ (ZDF) zum Beispiel stellte in der Sendung vom 09.03.2018 das gesamte Wahlergebnis in Italien mit einem Bild von einem Springerstiefel dar, der das stiefelförmige Italien auf der Weltkarte ersetzt. Dann wählte sie lediglich einen etwa fünf-sekündigen Ausschnitt, um Movimento-5-Stelle darzustellen. Beppe Grillo, der Gründer von Movimento-5-Stelle, wird auf einer Versammlung gezeigt, auf der „Vaffanculo“ (übersetzt etwas „verpisst Euch“) schreit – edel waren seine Worte nicht. Aber sie wurde als einzige, stellvertretende Szene für die gesamte Bewegung verwendet.
Was außerdem kaum jemand im Publikum weiß: Unter dem Motto „Vaffanculo“ wendet er sich gegen mafiöse Politiker, da diese überbezahlt den Staat zugrunde richten. Sie sollen sich also sinngemäß „zum Teufel scheren“ . Das Schimpfwort gilt daher ihnen und ist keine unbegründete Aggression. Live im Studio gab es für die meisten Witze von Oliver Welke über die Wahl in Italien meistens wenig bis mäßigen Applaus oder Gelächter. Vor der Show wurden allerdings Applaus und Lacher vom Publikum aufgezeichnet und zum richtigen Zeitpunkt so eingesetzt, als habe er dort massive Zustimmung des Publikums bekommen, wo eigentlich gar keine war.
Diese Art von Manipulation des Medienkonsumenten ist ein massives Problem, das immer häufiger auftaucht, je mehr Regierungen wackeln. Dem Bildungs- und Aufklärungsauftrag, zu dem sich öffentlich-rechtliche Medien verpflichtet haben, widersprechen diese regierungskonformen Berichterstattungen und Sendungen völlig.
Movimento-5-Stelle als Zukunft Italiens und Europas?
In jedem Fall muss die Bewegung unter Luigi Di Maio’s Führung sich nun auch in der Praxis bewiesen, angefangen mit der Bildung einer Regierung. Hier gibt es allerdings ein Problem: Das Vertrauen der Italiener in Parteien des mittleren Spektrums ist mittlerweile derart zerrüttet, dass sie zunehmend extrem rechts oder links wählen. Koalitionen aus einem Wahlergebnis wie dem aktuellen zu bilden ist damit schwer, da solche Parteien und Bewegungen kaum auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ausgehend davon, dass Movimento-5-Stelle regiert und nicht mit der Lega oder der PD koaliert, gibt es keine Koalition, die eine absolute Mehrheit erzielen kann. Rein rechnerisch mögliche Szenarien wären aber beispielsweise:
- Movimento-5-Stelle und Lega koalieren.
- Movimento-5-Stelle und PD koalieren. Auch eine Spaltung der PD mit Anschluss an Movimento-5-Stelle wäre denkbar. Diese Lösung wäre keine absolute Mehrheit, aber eine Annäherung und damit eine mögliche Minderheitsregierung.
- Die Regierung könnte an die stärkste Koaltion zwischen Salvinis Lega und Berlusconi’s Forza Italia abgegeben werden.
- Eine Neuwahl.
Welche Regierung es auch wird, wären viele Italiener sicher dankbar, wenn Movimento-5-Stelle zumindest ein paar der Forderungen umzusetzen kann – tut sie das, kann sie zu einem guten Beispiel für andere Länder werden. Der Kampf gegen Korruption und Mafia sowie die Privilegien von Politikern sind in den Augen vieler Menschen in Italien ein großer Schritt zur Besserung, den sie sich schon lange wünschen. Auch die Tatsache, dass Berlusconi mit großer Wahrscheinlichkeit nicht regieren wird, ist für die meisten eine sehr positive Nachricht. Zu hoffen bleibt aus Sicht der Italiener natürlich, dass Movimento-5-Stelle in der Regierung nicht zu moderat wird oder den Wahlversprechen gar komplett den Rücken kehrt. Syriza in Griechenland zum Beispiel galt auch einmal als Hoffnungsträger für die Armen und Frustrierten, doch brach plötzlich sämtliche Wahlversprechen an die Griechen und führte doch eine stark neoliberale Politik.
In jedem Fall aber ist europaweit zu beobachten, dass die politische Situation auf einen Konflikt zwischen neoliberalem Establishment und Protestparteien hinausläuft, der sich immer weiter zuspitzt. Sozialdemokraten und andere Parteien des mittleren Spektrums verlieren dabei zunehmend an Bedeutung. In Italien fängt also an, was bald in Europa immer weiter seinen Lauf nehmen könnte.
Quellen
https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahlen_in_Italien_2018
http://www.zeit.de/2011/20/Italien-Saviano/seite-2
https://www.youtube.com/watch?v=1UNsBoz8ToI (Journalist Fulvio Grimaldo bei KenFM)
https://de.wikipedia.org/wiki/Giftm%C3%BCll_bei_Neapel
https://de.wikipedia.org/wiki/MoVimento_5_Stelle
https://deutsch.rt.com/europa/54159-italien-armut-innerhalb-von-zehn-verdreifacht/
http://www.rp-online.de/politik/ausland/wahl-2018-in-italien-fuenf-sterne-bewegung-laut-prognosen-staerkste-partei-aid-1.7435666
http://www.demokratie-goettingen.de/blog/populismus-in-italien-das-movimento-5-stelle
https://www.fes.de/e/fuenf-sterne-bewegung-von-fundamentalopposition-zu-regierungsverantwortung/