Will Nürtingen tatsächlich das Grundeinkommen? Nicht ganz. Genau genommen lag die Zahl der Wähler, die bei der Europawahlwahl 2019 das „Bündnis Grundeinkommen“ wählten, laut Bundeswahlleiter bei 40.834 Wählern. Das entspricht nicht einmal der der Einwohnerzahl von Nürtingen (41.017), liegt aber immerhin über der von Schwabach (40.781). Also bei 0,1% der 37,4 Mio. gültigen Stimmen. Ein Fiasko, wenn man bedenkt, wie bekannt das Thema ist und wie viel mediale Aufmerksamkeit (hier einaktueller Auszug, mehr: Siehe unten) es genießt. Ein noch größeres Fiasko, wenn man bedenkt, dass sogar 99,8% aller BGE-Befürworter ihre Stimme anderen Parteien (oder gar keiner) gaben.
Riesiges Potential, fast komplett verschenkt
Unter „Grundeinkommenspartei verschenkt ihr Potential“ hatten wir es vor der letzten Bundestagswahl treffend prognostiziert: „So lange die Funktionäre der Partei nicht ergebnisoffen alle Modelle evaluieren wollen, und an der unsinnigen Idee festhalten, dass die Konsumenten / Arbeitnehmer über hohe Steuern ein BGE auf Hartz IV – Niveau finanzieren sollen, wird die Partei auf der Stelle treten.“
Genau das ist nun – wie bei jeder Wahl – schon wieder passiert. Das Bündnis Grundeinkommen verweigert sich der Modelldiskussion und lässt dadurch alle Gegenargumente einfach unbeantwortet wie z.B.:
- Kapitulation vor Arbeitsplatzverlusten
- Preissteigerungen und Verlust der realen Kaufkraft
- Boom bei Leiharbeit
- Boom im Niedriglohnsektor durch Missbrauch als Kombilohn
- Fehlende Mehrheitsfähigkeit durch zu hohe Belastungen der Bürger
Sehr einfache Unterschriftensammlung
Bei der Unterschriftensammlung zur Wahlzulassung war zu beobachten, dass die Partei 6 Wochen vor Schluss bei rund 40% der nötigen 4.000 Unterschriften lag. Also gingen die Aktivisten in die Fußgängerzonen – und siehe da: Ruckzuck waren die Unterschriften beisammen.
Wenn man Passanten die Frage stellt, ob sie für ein Grundeinkommen sind, erhält man von 50% ein Ja. Wenn man diese 50% bittet, ein Formular zu unterschreiben, damit die BGE-Partei an der Wahl teilnehmen darf, unterschreiben fast alle. Unterschriften für das Bündnis Grundeinkommen zu sammeln, ist viel einfacher als bei (wahrscheinlich allen) anderen Parteien.
99,8% Ablehnung der BGE-Befürworter müssen nachdenklich machen
Der Vorstand des Bündnis Grundeinkommen hat von den etablierten Parteien gelernt, auch krachende Niederlagen als Erfolg schönzureden. In ihrem Statement zum Wahlergebnis der Bundestagswahl 2017 feierte der Bundesvorstand die 0,2% als Erfolg, obwohl – Zitat – „52% der Deutschen schon heute die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens befürworten.“
Bei der Europawahl 2019 hat sich das Ergebnis halbiert. Statement des Vorstands:
„Danke für 40.834 Mal JA zum BGE bei der Europawahl. Wir sind stolz darauf, als Kleinstpartei intensiv online, mit Presseartikeln, Fernseh- und Radiospots sowie bei Veranstaltungen und auf den Straßen das Bedingungslose Grundeinkommen vielen Menschen näher gebracht zu haben. … Die aktuellen Entwicklungen (geplante Pilotprojekte, Forschungsförderungen usw.) sind vielversprechend; die gesellschaftliche Debatte geht weiter.“
Wir haben vollstes verständnis für die Vorstände aller Parteien, die schlechte Ergebnisse schönreden müssen, um die Anhänger zum Weitermachen zu ermutigen.
Aber die Frage muss gestellt und beantwortet werden: Warum haben selbst unter den Befürwortern nur 0,2% der Partei ihre Stimme gegeben? Oder umgekehrt: Warum haben 99,8% all derer, die ein Grundeinkommen befürworten, der Grundeinkommenspartei keine Stimme gegeben?
Meine Perspektive als Ex-Vorsitzender einer Kleinpartei
Ich war von 2009-2011 Bundesvorsitzender einer Kleinpartei (die es seit 2014 nicht mehr gibt) und habe dabei aufschlussreiche Erfahrungen gesammelt.
Im Unterschied zum Bündnis Grundeinkommen, dessen Thema die große Mehrheit der Wähler kennt und das rd. die Hälfte „grundsätzlich“ positiv bewertet, wurden wir – wie alle anderen Kleinparteien (bis auf Rechtsextreme) von den Medien komplett totgeschwiegen. Einzige Ausnahme war der Telepolis-Artikel „Die Partei zur Entmachtung der Parteien“. Bei den Massenmedien hatten wir als Kleinpartei keine Chance auf Berichterstattung, und damit keine Chance auf Wähler.
Worauf ich hinaus will: Im Unterschied zum Bündnis Grundeinkommen haben wir uns im Bundesvorstand und in den Landesvorständen permanent gefragt, was wir verbessern können, um mehr Erfolg zu haben. Selbst mit unserem wichtigsten Alleinstellungsmerkmal – immerhin der Beseitigung von Arbeitslosigkeit durch die Verknüpfung von Inlands-Geschäften und Inlands-Beschäftigung – war es nicht möglich, Medienberichte zu erhalten. Als ich erkannt habe, dass man ohne ein bereits bekanntes und populäres Thema keine Chance hat, habe ich mein Engagement nach 3 Teilnahmen an Landtagswahlen eingestellt. Ganz anders ist die Situation beim Bündnis Grundeinkommen:
Die Kleinpartei mit der größten Medienpräsenz
Das Bündnis Grundeinkommen hat diese Probleme nicht. Man muss schon hinterm Mond leben, um noch nie etwas vom BGE und dieser Partei gehört zu haben. Daher genoss die Partei das Privileg einer sehr umfangreichen, größtenteils wohlwollenden Berichterstattung. Kleine Auswahl:
- Tagesschau (Video vom 29.08.2017)
- Die Zeit
- Die Welt
- FAZ
- ARD Mittagsmagazin 16.06.2017 (Video)
- TV-Bericht: ZDF Drehscheibe
- Bayrischer Rundfunk, Radio Bayern 2
- Süddeutsche Zeitung über die Parteigründung
- Süddeutsche Zeitung, Magazin „jetzt“
- Handelsblatt
- Huffington Post
- de
- Neues Deutschland
- Vorwärts
- Weser Kurier
- Westdeutsche Zeitung
- Badische Zeitung
- Göttinger Tageblatt
- Neue Osnabrücker Zeitung
- Mittelbayerische Zeitung
- Rundblick Niedersachsen
- Osnabrück Radio
- Spreezeitung
- Sputnik
- Thüringen 24
- Halle Spektrum
- Krautreporter
Mehr PR geht nicht
Hinzu kam ein umfangreicher Strassenwahlkampf und ein noch massiverer Wahlkampf in den sozialen Medien. Alle der zahlreichen BGE-Initiativen haben dafür geworben. Und das alles bezog sich nur auf die Partei. Die Liste der Berichte über die Grundidee des Grundeinkommens ist endlos. Mehr PR geht eigentlich nicht für eine Kleinpartei.
Wenn trotz alldem nicht mehr herauskommt als 0,1% bzw. 99,8% Ablehnung sogar unter der Sympathisanten, dann MUSS sich der Bundesvorstand fragen, wie man mehr Erfolg haben könnte.
Reichlich nebensächlich ist zum Beispiel die Festlegung des Logos, das u.a. laut Vorstandssitzung vom 27.04.2017 „das Thema ist, dass seit der Gründung viele Menschen elektrisiert“…
Und nochmal: Das Modell ist der Schlüssel zum Erfolg
Im Statement nach der Bundestagswahl schreibt der Vorstand: „Auch viele Vertreter aus der Wirtschaft sprechen sich offen für diese zukunftsweisende Idee aus.“ Logisch. Denn die alten BGE-Modelle senken als Kombilohn die Lohnkosten und lassen den Niedriglohn boomen.
Wenn die Aktivisten des „Bündnis Grundeinkommen“ das Potential des BGE ins Parlament bringen wollen, müssen sie sich auf die Wähler konzentrieren und Antworten auf die Gegenargumente bieten.
Unter „Antwort auf BGE-Gegenargumente: Das „Steuerspar-BGE“ finden sie diese Antworten. Wenn es ihnen gelingt, damit die Öffentlichkeit zu erreichen, ist der Einzug in den Bundestag bei der nächsten Wahl wahrscheinlich.
Wenn der Vorstand aber weiterhin glaubt (siehe Statement zur Bundestagswahl), „Die Debatte über dieses wichtige Thema hat erst begonnen“ und weiter ignoriert, dass seit einem halben Jahrtausend (seit 1516) darüber debattiert wird, debattieren sie in den nächsten 500 Jahren noch.
Was muss passieren, damit der Vorstand ALLE BGE-Modelle neutral und ergebnisoffen evaluiert? Wie wäre es, mit dem „Steuerspar-BGE“ in den nächsten Wahlkampf zu ziehen? Highlights:
- Mindestens 2.000 € monatlich
- Von der Wirtschaft finanziert, keine Umverteilung durch Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer
- Keine Preiserhöhungen, keine Steuererhöhungen
- Beseitigung der Arbeitslosigkeit bei sinkenden Arbeitszeiten und steigenden Gehältern
- Keine Leiharbeit mehr möglich
- Kein Niedriglohn mehr möglich
- Mehrheitsfähig und umsetzbar
Bitte erst das Konzept lesen, dann kommentieren (wo auch immer dieser Artikel geteilt wird). Wenn Sie monieren, dass der Ton bei diesem x-ten Versuch, die Vertreter alter (oder keiner) BGE-Modelle zum Weiterdenken zu bewegen, zu undiplomatisch ist:
Wir versuchen bereits seit 2006 mit „Engelszungen“, Götz Werner und seine Fans zum Weiterdenken zu bewegen. Hat auch nichts gebracht. Und wenn das Bündnis Grundeinkommen stur wie die SPD am „weiter so“ festhält, wird es vielleicht eine neue BGE-Partei geben, die Erfolg haben will.